Die vorläufige Vollstreckbarkeit nach § 61 ASGG ist ein scharfes Instrument des arbeitsgerichtlichen Verfahrensrechts – und für Arbeitgeber:innen oft eine unterschätzte Risikoquelle. Denn ein stattgebendes erstinstanzliches Urteil wirkt sofort und rückwirkend, auch wenn es später aufgehoben wird. Unternehmen sehen sich dadurch binnen weniger Wochen mit spürbaren Entgeltverpflichtungen, hohen Verzugszinsen und – im Fall einer Abänderung – umfangreichen Rückforderungsansprüchen konfrontiert.
Der Gesetzgeber wollte damit lange Schwebezustände vermeiden und eine rasche Klärung arbeitsrechtlicher Ansprüche ermöglichen. Die jüngere höchstgerichtliche Rechtsprechung zeigt jedoch deutlich: Die vorläufige Vollstreckbarkeit schafft nicht nur Verfahrenseffizienz, sondern auch erhebliche praktische und finanzielle Risiken.
Die wichtigsten Problemfelder – und die strategischen Empfehlungen für Arbeitgeber:innen – im Überblick:
Unter der Überschrift „Wirkungen von Entscheidungen“ ordnet§ 61 Abs 1 ASGG an, dass die rechtzeitige Erhebung der Berufung nur den Eintritt der formellen Rechtskraft hemmt, nicht jedoch (i) den Eintritt der Verbindlichkeit der Feststellung, (ii) der Rechtsgestaltungswirkung, oder (iii)der Vollstreckbarkeit in den taxativ (dh abschließend) aufgezählten Fällen des§ 61 Abs 1 Z 1 - 5 ASGG:
Zu diesen fünf Fallgruppen zählen Streitigkeiten:
Wesentlicher Kern der Bestimmung ist die sog „Fortbestehensfiktion“.Das bedeutet, dass die erstinstanzliche Entscheidung bis zu deren rechtskräftiger Abänderung bestehen bleibt. Somit entfaltet auch ein abänderndes Berufungsurteil (vorläufig) keine Auswirkungen, solange die Entscheidung nicht in Rechtskraft erwachsen ist.
Das bedeutet:
Damit gehen jedoch praktische und finanzielle Risiken für beiden Parteien einher – denn die Rechtslage, die im Zeitpunkt deserstinstanzlichen Urteils entsteht, gilt vorläufig für das gesamte Verfahren. Selbst dann, wenn sie sich später als unrichtig herausstellen sollte.
Nach § 1155 ABGB hat der/die Arbeitnehmer:in bei Klagsstattgebung in erster Instanz (vorläufig) Anspruch auf Entgelt für die Zeit ab dem „vorläufig unwirksamen“ Ende der Beschäftigung, sofern er oder sie arbeitsbereit war. Die Wirkung der Entscheidung tritt – wie oben bereits festgehalten – sofort und rückwirkend (ex tunc) ein.
Solange das Urteil nicht rechtskräftig abgeändert wird, muss der/die Arbeitgeber:in die Entgelte vorläufig bezahlen – selbst wenn er von der Unrichtigkeit des (Erst-)Urteilsüberzeugt ist und dieses bekämpft.
Zahlt der/die Arbeitgeber:in das Entgelt nicht, kann Exekution auf den gesamten Bruttobetrag geführt werden.
Kommt es im Berufungsverfahren oder vor dem OGH zu einer rechtskräftigen Abänderung der Entscheidung, erlischt die vorläufige Verbindlichkeit des erstinstanzlichen Urteils rückwirkend. Alle auf dieser Grundlage bezahlten Beträge sind zurückzuzahlen. Wesentlich ist dabei vor allem, dass
Nur wenn der Zahlung eine tatsächliche Arbeitsleistung gegenüberstand, entfällt die Rückforderung – was in Entgeltprozessen ausgeschlossen und in Kündigungsanfechtungsverfahren praktisch nur selten der Fall ist.
Arbeitgeber:innen sind im Falle der Rückforderung gut beraten, den gesamten vorläufig bezahlten Bruttobetrag zurückzufordern, weil Arbeitgeber:innen die vorläufig abgeführte Lohnsteuer nur im aktuellen Kalenderjahr aufrollen können. Zudem gebühren die Zinsen ebenfalls aus dem(höheren) Bruttobetrag.
Der Arbeitnehmer kann die Lohnsteuer hingegen im Wege der Arbeitnehmerveranlagung geltend machen und sämtliche SV-Beträge mittels Ungebührlichkeitsantrag nach § 69 ASVG zurückfordern.
Angesichts der erheblichen finanziellen Risiken, die mit der vorläufigen Urteilswirkung (insb bei Kündigungsanfechtungen) einhergehen, empfiehlt sich eine sorgfältige Abwägung, ob auf Arbeitnehmerseite von der vorläufigen Vollstreckbarkeit Gebrauch gemacht werden soll. Rückforderungen von mehreren Monatsgehältern zuzüglich hoher Verzugszinsen führen aufgrund der nicht zu unterschätzenden Verfahrensdauer nicht selten zu existenzbedrohenden finanziellen Belastungen.
Möchte der/die Arbeitgeberin das Ausfalls- bzw Insolvenzrisiko des/der Arbeitnehmers/in nicht tragen, wäre bereits während deslaufenden erstinstanzlichen Verfahrens zu überlegen, ob von einem Antrag auf Hemmung der Vollstreckbarkeit nach § 61 Abs 4 ASGG Gebrauch gemacht werden soll, der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz gestellt werden muss. Wird die Vorläufige Vollstreckbarkeit gehemmt, sind die Beträge freilich bis zur rechtskräftigen Erledigung gemäß § 49a ASGG weiter zu verzinsen.
Möchte der/die Arbeitnehmerin das Risiko der Rückforderung der vorläufig gezahlten Beträge samt Zinsen vermeiden, empfiehlt sich im Einvernehmen mit dem/der Arbeitgeber:in die rechtskräftige Entscheidung abzuwarten.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit sorgt zwar für die rasche Durchsetzung (gewisser) arbeitsrechtlicher Ansprüche. Gleichzeitig ergeben sich daraus jedoch auch erhebliche finanzielle Risiken, wenn sich die erstinstanzliche Entscheidung im Rechtsmittelverfahren als unrichtig herausstellt.
Für beide Parteien ist daher nach Einlangen der erstgerichtlichen Entscheidung eine gründliche Analyse der Erfolgsaussichten, ein klares Verständnis der Rechtswirkungen und eine strategische Planung (in Hinblick auf eine mögliche Rückforderung) essentiell.
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